Fernfahrer – Eine Erzählung in 5 Gedichten

1. Der Unfall
Das Ziel ist nah. Die Fuhre bald beim Kunden;
gleich ist die lange Strecke halb geschafft.
Der Fahrer konzentriert die Willenskraft.
Dann fallen seine Augen zu. Sekunden

danach ertönt ein fürchterliches Krachen.
Die Ladung rutscht, gerät aus der Balance:
Der Mann im Führerhaus hat keine Chance.
Er wird aus seinem Schlaf nie mehr erwachen.

Zuhause schlummert ahnungslos sein Sohn
und auch die Ehefrau. Sie träumt sich schon
zum nächsten Tag und jenem Wiegenfest,

an dem das Kind das erste Jahr vollendet.
Noch weiß sie nicht, wie sich das Schicksal wendet.
Noch fühlt sie nicht, dass sie das Glück verlässt.

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2. Die Nachricht
Es geht ihr gut. Sie scherzt ein wenig, plaudert
und lauscht dann irritiert am Telefon
der Stimme mit dem fremden Unterton:
„Ein Unfall ist geschehn.“ Der Sprecher zaudert.

Die Nachricht dringt ins Hirn und schafft dort Leere.
Sie glaubt sie nicht und fühlt sich sehr verwirrt.
So hofft sie still, man habe sich geirrt.
Viel später erst begreift sie all die Schwere.

Am Mittag steht sie stumm am Unfallort.
Den Leichnam darf sie nicht mehr sehen.
Man brachte ihn bereits am Morgen fort.

Ach nein. Sie kann, sie will es nicht verstehen.
Bestimmt ist er am Abend wieder da.
Der Kopf mag nicht begreifen, was geschah.

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3. Der Chef
Er führt ein strenges Regiment.
Der Lohn ist karg, die Arbeit schwer;
sein Fahrer engagiert sich sehr,
obwohl er kaum noch Freizeit kennt.

Spät in der Nacht kommt er nach Haus;
viel Zeit bleibt nicht für Frau und Kind,
die viel zu oft alleine sind.
Am Morgen fährt er wieder raus.

Sein Boss lebt für die Spedition.
Das Wohl des Fahrers kommt zuletzt.
Doch heute sieht der Chef entsetzt:
Das Unfallopfer ist sein Sohn.

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4. Der Sohn
Von kurzer Dauer war dein Erdenleben;
dein Sohn entsinnt sich nicht, er war zu jung.
Sein Wissen speist sich aus Erinnerung,
die ihm die Mutter durfte weitergeben.

Dein Bild gewann in ungezählten Stunden
Gestalt, du wurdest ihm vertraut. Auch wenn
du tot bist, du bist nicht vergessen, denn:
Er fühlt sich dir noch immer tief verbunden.

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5. Wie man (mit) Trauer umgeht
Solange Fröhlichkeit im Haus regierte,
erschienen Gäste mehrmals wöchentlich
und saßen gerne angeregt bei Tisch.
Man scherzte, redete und resümierte,
dass nichts die Freundschaft jemals separierte.
Doch dieser Glaube starb mit einem Wisch,
als trostlos Trauer durch die Räume schlich
und man sich unbeholfen distanzierte.

(by: Janna Ney)

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